Letztens stand ich in der Küche und bereitete mein Frühstück vor. Es war ein eisig kalter Wintermorgen mit strahlendem Sonnenschein und blauem Himmel. Ich zog vegetarischen Schmalz aus dem Schrank und bestrich eine Scheibe Vollkornbrot damit. Danach kam noch Aprikosengelee drauf und etwas Salz. Als ich reinbiss, saß ich gefühlt als Kind im Esszimmer meiner Großeltern: ‚Julie, schau mal, hier ist noch der gute Gänseschmalz von Weihnachten. Hmmm, probier mal wie lecker der ist.‘ Typische Sätze meiner Omi, die jedes, wirklich jedes Essen mit einer Begeisterung und Freude servierte, als sei es das größte Geschenk überhaupt. ‚Und ich hab Dir ein wunderbares Ei gekocht und hier ist noch die köstliche Leberwurst…‘ Jedes Essen ein Fest, ein Geschenk und das überhaupt Schönste, was meine Omi ergattern konnte. Aber nicht nur das Essen, sondern auch jedes Getränk war etwas Besonderes. Sogar der Hagebuttentee schmeckte anders bei ihr. Wahrscheinlich war es die Liebe und Begeisterung, mit der sie alles servierte, die mich jetzt noch fasziniert.
Und Opi bestätigte ihr dies alles mit einem feuchten Kuss auf den Mund. Meine Eltern haben sich nie so geküsst, aber meine Großeltern waren immer irgendwie verliebt bis ins hohe Alter. Als Kind fand ich es seltsam und lustig zugleich. Mein Opa wollte auch eigentlich nie auswärts Essen gehen: Die Omi kochte doch am Allerbesten. Doch sie ging überaus gern ins Restaurant und genoss es, wenn meine Eltern sie einluden.
Und sie stand für mich gefühlt als Kind immer in der Küche und kochte und backte Kuchen – ja, 12 Eier sind in dem besonderen Zitronenkuchen, den alle aus der Familie mit Freude verschlangen. Und all die anderen Gerichte, Kuchen und Plätzchen, von denen ich jetzt gerne ein Rezept hätte.
In jener Küche, in der gekocht und gebacken wurde, tanzte und sang sie auch mit mir. Oder im Wohnzimmer, wo Opi oft seine Pfeife rauchte oder Zeitung las. Wir tanzten zum Schnee-Schnee-Schneewalzer oder sie sang Lieder von Hildegard Knef mit tiefer Stimme nach. Wenn ich mittags meinen Teller aufgegessen hatte, bekam ich etwas Geld in mein Sparschwein. Man muss dazu sagen, dass ich ein dünnes, schlecht essendes Kind war, das lieber vor dem Mittagessen mehrere Gläser Orangensaft heruntertrank oder von allerlei Süßkram begeistert war, was mir schon vor der Einschulung mehrere Zahnarztsitzungen bescherte…
Manchmal denke ich auch an die Momente, wo ich auf der Fensterbank saß in der besagten Küche und darauf wartete, dass meine Eltern mich abholten. Und ja, so schön es dort war tagsüber, am liebsten schlief ich eben zuhause, weil ich meine Familie schnell vermisste, das Gästebett mit der laut tickenden Uhr an der Wand nicht mochte und zuhause natürlich auch nichts verpassen wollte.
Wenn ich krank war, folgten Besuche mit der natürlich besten Ananans, die der ganze Coop im Sortiment hatte und Säften und guten Äpfeln neben ein paar Bonbons – die Tüte in ihrer Hand war immer groß und voll. Sie war auch diejenige, die ich beim Einkaufen noch zu ein paar HubbaBubbas und Maoam überreden konnte, während dies bei meiner Mutter meist nicht funktionierte.
Sie schlug für mich Purzelbäume, machte im hohen Alter Hand- und Kopfstände an die Tür, wobei sie auch in sich zusammensackte und ich mich kaputt lachte. Sie machte so ziemlich alles, um mich bei Laune zu halten: wir bastelten Apfelmännchen und Figuren aus Kastanien, wir spielten Feder- und Treibbal, schwammen im See um die Wette und kuschelten im großen Bett bei ihr am Morgen, während mein Opa den Nachrichten lauschte aus dem großen alten Radio auf dem Nachttisch. Sie erzählte die besten, lustigsten aber auch traurigsten Geschichten und Märchen mit entsprechender Mimik und Gestik. Wie ich später erfuhr, schrieb sie Geschichten an Zeitschriften, die dann auch veröffentlicht wurden oder ein Theaterstück für Kinder.
Omi stand immer fröhlich strahlend in der Tür und sagte: Komm(t) rein in die gute Stube. Und ja, es war die Gemütlichkeit und Herzlichkeit dort, die für alle so einladend war. Die ganze Verwandtschaft kam dort immer wieder zusammen. Am Schönsten war natürlich das gemeinsame Weihnachtsfest mit allen. Für meinen Opa das Fest der Fülle, das wochenlang geplant wurde. Ich weiß jetzt noch, wie alles dort geschmeckt hat.
Ihre guten Geschichten erzählte ich dann teilweise auch den Kindern in der Schule und die Kinder liebten sie wie ich damals. Aber es gab eben auch ihre traurigen Geschichten aus dem Krieg und viele Tränen über Verluste und dramatische Erinnerungen. Vielleicht hat sie mir zu viel erzählt, aber ich war irgendwie ihre Vertrauensperson. Ich habe gelernt, dass überall, wo Licht ist, eben auch Schatten fällt und beides zum Leben dazugehört. Und dass Lachen und Weinen manchmal nah beieinander liegen in emotionalen Momenten.
Irgendwann vor meiner Einschulung biss sie irgendein Mistvieh beim Himbeerepflücken in unserem Garten. Sofort kam sie mit einer schweren Hinhautentzündung in die Uniklinik und wäre fast gestorben. Doch sie stand wieder auf, obwohl sie wohl jahrelang unter diesem Vorfall litt und Schlafprobleme hatte.
Aber auch mein Opi hat mir den richtigen ‚Schubs‘ in wichtigen Momenten gegeben: Meine eine Schwester versuchte wochenlang, mir Fahrradfahren beizubringen. Es endete in Frust auf beiden Seiten. Es setzte mich unter Druck. Doch eines Tages nahm Opi die Stützräder ab, sagte: ‚Hopp, setz Dich drauf, ich schieb Dich an.‘ Und plötzlich fuhr ich einfach los, fühlte mich frei wie ein Vogel, und er rannte mir in diesen komischen Clocks die Straße hinterher und lachte und rief: ‚Brems, Julie!‘ Und ich fuhr weiter und lachte und war so stolz auf mich. Und er lief hinter mir so schnell er konnte in diesen unmöglichen Laufschuhen und fürchtete, dass ich fallen könnte und ich erwartete schon fast, dass er hinter mir hinfiel. Aber das Gefühl, endlich Radfahren zu können, war so überwältigend, dass ich weiterfuhr ohne böse Absichten. Alles ging gut. Ich bremste irgendwann. Er bremste hinter mir außer Atem. Danach umarmten wir uns: ich war so glücklich und selbstbewusst. Meine Großeltern machten einfach jeden Quatsch mit. Sie spornten mich an in Kreativität und Humor.
Omi verteidigte auch später meine erste Teenager-Liebe, die meinen Eltern ein Dorn im Auge war. Und ich bekam meinen ersten Kuss, als meine Großeltern das Haus hüteten, weil meine Eltern auf einem Kongress waren. Sie war tolerant und neugierig, romantisch durch und durch. Sie vertraute mir und umgekehrt. Wir hatten unseren eigenen Humor.
Irgendwann wendete sich das Blatt und ich begann nach dem Abitur für meine Großeltern Essen einzukaufen und zu kochen, als sie tüddelig wurden. Ich lief in den Schrebergarten, um Obst und Gemüse zu ernten, weil es Opi nicht mehr konnte. Es machte mir Spaß. Doch irgendwann stand ich mit der Feuerwehr vor der Tür und musste sie aufbrechen lassen, weil meine Omi schlimm gefallen und mein Opa bereits im Krankenhaus war. Ich besuchte sie täglich und kümmerte mich viel um meine Großeltern, die mir so viel Gutes und Wichtiges mitgegeben hatten.
Als ich für ein Auslandssemester nach Amerika ging, telefonierten wir regelmäßig. Dann weinte sie, sagte aber, dass sie nur etwas erkältet sei, ich es dort genießen sollte und wie stolz sie auf mich sei. Aber dass sie mich auch sehr vermissen würde. Dann heulten wir beide. Sie und mein Vater waren meine größten Unterstützer bei allem, was ich tat und wovon ich träumte. Diese Kraft und Unterstützung behalte ich für immer im Herzen. Es ist das Prinzip von ‚Wurzeln und Flügeln‘ nach Goethe.
Sie lebte lang und wurde fast 100 Jahre alt. Immer, wenn ich sie später im Pflegeheim besuchte, waren dies besondere Momente. Sie war voller Verzweiflung über meinen kranken Vater und trauerte bei seinem Tod mit mir um ihn. Sie war immer mein besonderer Halt in schweren Zeiten.
Als sie später als schwerer Pflegefall nur noch im Bett lag, kaum mehr sprechen konnte und ich ihr dann aus einem Buch kleine Geschichten vorlas, dachte ich manchmal, sie hätte mich nicht wahrgenommen. Doch dann kullerte eine Träne aus ihrem Auge und ich wusste, dass sie meine Anwesenheit spürte. Manchmal fasste sie auch meine Hand ganz fest und erzählte mir noch bestimmte Momentaufnahmen aus ihrem spannenden Leben. Als müsse sie noch etwas loswerden.
Viele Jahre nach ihrem Tod sehe ich noch ihr Lachen, wenn ich zum Einkaufen gehe oder höre ihre liebe Stimme, wenn ich bestimmte Dinge mache. Ich glaube, meine Begeisterung für gutes Essen und Genuss habe ich definitiv von ihr – und den Satz, dass man jeden Tag positiv sein und den Menschen mit einem Lächeln begegnen sollte, auch wenn einem nicht immer danach ist.